Jobs, die keiner braucht
Herbstlese: Der Politische Salon mit David Graeber: „Bullshit Jobs“. In Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V. und der Willy Brandt School of Public Policy an der Universität Erfurt
Der Abschluss seiner Lesereise durch Deutschland stand kurzzeitig auf der Kippe. David Graeber, der mit dem Zug unterwegs war, verpasste es nämlich, in Erfurt auszusteigen. Doch glücklicherweise – für all jene, die am Abend des 21. Septembers im Haus Dacherröden ein wenig Geduld aufbrachten – stieg David Graeber in Leipzig aus und fuhr von dort aus zurück nach Erfurt; so fand die Lesung doch noch statt.
Ein Abend, der sich lohnte, denn David Graeber, Anthropologe und engagierter politischer Aktivist, stellte sein neuestes Buch „Bullshit Jobs“ vor.
Bullshit-Jobs: Jobs, die letztendlich nutzlos sind
Doch zunächst gab Prof. Dr. Achim Kemmerling von der Willy Brandt School of Public Policy dem wartenden Publikum eine kurzweilige und kundige Einführung in das Buch. „Es geht darum:“, so Kemmerling, „Die moderne Arbeitswelt erzeugt Tätigkeiten, die so sinnlos sind, dass nicht einmal diejenigen, die sie ausführen, sie als notwendig betrachten können. Aber sie müssen so tun, als ob.“
„Bullshit Jobs“ habe seinen Ursprung in einem Essay („Über das Phänomen der Bullshit-Jobs“, nachzulesen im Buch), den David Graeber 2013 veröffentlichte. Auf diesen Text bekam er so viel Resonanz, dass er sich entschloss, tiefer in die Materie einzutauchen. Später am Abend ergänzte Graeber, wie er überhaupt zum Thema kam: „Mich interessiert, wie etwas funktioniert. Wenn man sich kennenlernt, stellt man sich vor. Ich sage dann, ich bin Anthropologe und daraufhin hörte ich oft von meinem Gegenüber: ‚Ich mache nichts so richtig‘. Diese Aussage hielt ich zunächst stets für Bescheidenheit, aber nach ein bis zwei Gläsern stellte sich heraus, dass es tatsächlich so ist.“
Schließlich schrieb Graeber, der sich selbst als „Arbeiterklassekind, aber aus intellektuellem Umfeld“ beschreibt, oben genannten Essay über dieses Phänomen und nannte es „Bullshit-Jobs“. Bullshit-Jobs sind „Jobs, die letztendlich nutzlos sind; Tätigkeiten, von denen Menschen insgeheim glauben, dass sie nicht ausgeführt werden müssen“.
„Das war anfangs als humorvolle Provokation gedacht. Ich hatte absolut nicht erwartet, was da an Feedback zurückkommt“, erzählt Graeber. Innerhalb weniger Wochen sei der Text in mindestens ein Dutzend Sprachen übersetzt worden und verbreitete sich rasant.
Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.
Graeber startete daraufhin eine Umfrage auf Twitter („Hast du einen Bullshit-Job?“) und eröffnete einen E-Mail-Account, auf dem Menschen über ihre Erfahrungen berichten konnten. Daraus wurde das Material für das Buch. David Graeber: „So gesehen ist dieses Buch eine Kollaboration mit all diesen Menschen“. Kemmerling meint dazu: „Dieses Buch ist voll von Anekdoten“.
Anekdoten wie diese: Betsy arbeitet in einem Pflegeheim und hat dort die Aufgabe, die Bewohner (die meisten davon sind Kurzzeitbewohner, die am nächsten Tag wieder ausziehen) über ihre Vorlieben für die Freizeitgestaltung zu befragen. Dabei weiß sie, dass niemals etwas davon umgesetzt wird und die Bewohner wissen es auch. Es geht bei ihrer Arbeit ausschließlich darum, Kästchen anzukreuzen und die Formulare aufzubewahren.
Dieses Beispiel zeigt bereits einen Typ der Bullshit-Jobs: den Kästchenankreuzer.
„Ich dachte, es gibt 15 – 20% Bullshit Jobs auf der Welt. Nach einer Umfrage in Großbritannien waren sich aber 37% der Menschen sicher, dass ihre Arbeit keinen Beitrag leistet. Andere Umfragen kamen zu ähnlichen Ergebnissen.“ (David Graeber)
David Graeber: „In Gesprächen mit Betroffenen haben sich fünf Basistypen von Bullshit-Jobs herauskristallisiert: der Lakai, der Schläger, der Flickschuster, der Kästchenankreuzer und der Aufgabenverteiler.
Die Lakaien sind dafür da, andere Menschen besonders wichtig erscheinen zu lassen. Der Concierge im Hotel oder der Assistent des Geschäftsführers gehören dazu.
Der Schläger würde vermutlich niemals sagen, dass er einen Bullshit-Job hat. Diese Jobs entstehen, weil die Konkurrenz sie aufruft.“, so Graeber. Der Begriff „Schläger“ sei natürlich im übertragenen Sinn gemeint. „Ich meine damit keine wirklichen Gangster oder andere angestellte Muskelprotze. Als Schläger bezeichne ich vielmehr Menschen, deren Tätigkeit ein aggressives Element beinhaltet, die aber – und das ist entscheidend – nur deshalb existieren, weil andere Menschen sie anstellen. Das naheliegende Beispiel sind die staatlichen Streitkräfte. Staaten brauchen Armeen nur deshalb, weil andere Staaten Armeen haben“, schreibt David Graeber in seinem Buch.
„Die Flickschuster kommen aus dem technischen Bereich. Das sind Leute, die Probleme lösen, die eigentlich niemals existieren sollten. In der Software-Industrie kommt das häufig vor.
Die Kästchenankreuzer sind sehr weit verbreitet. Dazu gehören zum Beispiel Personen, die erklären, dass die Firma etwas tut, was sie eigentlich gar nicht macht. Als Universitätsprofessor verbringe ich inzwischen mehr Zeit damit, Formulare auszufüllen, die beschreiben, was ich tue als damit, es einfach zu tun.
Der Aufgabenverteiler managt etwas, wofür es keines Managements bedarf“.
„Ich wollte zuerst kein Buch schreiben, aber ich wurde schnell darin bestätigt, dass das Thema einen Nerv trifft. Inzwischen wurde das Buch in 28 Sprachen übersetzt, zuletzt in Persisch, das heißt, auch im Iran scheint es ein Problem mit Bullshit-Jobs zu geben.“ (David Graeber)
Es handele sich dabei, so Achim Kemmerling, meist um klassische Angestelltenverhältnisse, die gut bezahlt werden. Aber: „Es geht wirklich nicht nur um Bürokraten. Es ist keine Schelte des Staatsapparates.“ Im Gegenteil, vor allem in der Privatwirtschaft sei diese Art der Arbeit weit verbreitet. Kemmerling: „Ein Lieblingsopfer ist Werbung. Werbeleute kommen in diesem Buch nicht gut weg.“ Und: „Man erfindet auch als Arbeitgeber Tätigkeiten, die sinnlos sind. Man muss so tun, als wären diese Jobs wichtig.“ Das Dilemma sei, dass die Leute nichts arbeiten, aber unter Stress leiden, der daher rührt, dass sie ständig simulieren müssen, dass sie arbeiten.
David Graeber ergänzte: „Fast niemand, der einen Bullshit-Job hat, ist im Service oder im Handel tätig. Es ist offensichtlich nicht so, dass diese Jobs sinnlos sind – die Dienstleistung hat ihren Sinn. Nicht der Dienstleistungssektor hat sich verändert, sondern die administrativen Tätigkeiten. Diese sind in manchen Ländern von 25% auf 75% gestiegen. Es gibt diese Bereiche, in denen man nichts tut oder nichts Sinnvolles tut: Gesellschaftsrecht, Consulting, Lobbyismus, der Bankensektor, die Werbung usw.“
Aber wie konnte das passieren? „Leider ist es so, dass Manager und Geschäftsführer ihr Prestige als auch ihre Macht und ihr Einkommen daran gebunden sehen, wie viele Leute unter ihnen arbeiten“, erklärte Graeber. „Die Frage ist: Wieso arbeiten wir nicht einfach 15 Stunden pro Woche? Doch anstatt uns jetzt in mehr Freizeit zu begeben, halten wir uns mit Geschäftigkeit auf. Die Frage ist: Wollen wir mehr Freizeit oder mehr Konsum? Bei uns herrscht die Moralvorstellung, dass wir lieber mehr konsumieren wollen statt ein einfaches Leben zu führen. Das scheint politische Gründe zu haben. Es gibt keinen Plan, aber man hat es erlaubt. Man will alle beschäftigt halten.“
„Aber“, fragte Achim Kemmerling, „ist es wirklich so schlimm? Vielleicht sind solche Funktionen für die Organisationen wichtig?“ – „Bedenken Sie bitte, dass es sich hier um subjektive Definitionen handelt“, antwortete Graeber, „Die Menschen benennen einen sozialen Wert, den sie mit ihrer Arbeit erreichen wollen. Als Sozialwissenschaftler würde ich weniger Kategorien aufstellen und zum Beispiel die Schläger ganz außen vor lassen, aber ich habe die Menschen gefragt: Was empfinden Sie da? Viele Menschen beziehen einen Lebenswert aus ihrem Job und das ist der Grund, weshalb sie so unglücklich sind, wenn ihre Arbeit sinnlos ist, wenn sie sehen, dass ihr Job niemandem hilft. Arbeit soll das Leben besser machen, das eigene oder das anderer“.
Die anschließenden Fragen aus dem Publikum zeigten lebhaftes Interesse für Graebers Analysen und boten Gelegenheit, das Thema tiefer zu erfassen:
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Rechtsruck in der Gesellschaft und den Bullshit-Jobs?
David Graeber: „Ja, ich sehe eine Verbindung, denn die Aufteilung der Arbeit schafft tiefe Ressentiments zwischen Menschen mit realer Arbeit und Menschen mit Bullshit-Jobs“.
Warum bleiben die Menschen in den Bullshit-Jobs, wenn sie doch darunter leiden?
David Graeber: „Das ist genau das Dilemma: Die Jobs, die für qualifizierte Menschen zur Verfügung stehen, sind meistens Bullshit-Jobs. Sinnvolle Jobs werden so schlecht bezahlt, dass man teilweise nicht einmal die Miete davon zahlen kann. Das Arbeitssystem bestimmt, welche Arbeit einen Wert hat. Zum Beispiel werden Frauen, die Erziehungsarbeit leisten, nicht bezahlt und deshalb ist ihre Arbeit im System nichts wert. Menschen möchten etwas Nützliches für die Gesellschaft machen, bekommen dafür aber zu wenig Geld und gleichzeitig kosten diese Jobs so viel Zeit, dass die Familie viel zu kurz kommt. Hier hilft auch die künstliche Intelligenz nicht weiter, denn leider können Roboter gerade die Jobs, die schlecht bezahlt werden, nicht verrichten“.
Müssen wir eine Wertediskussion führen?
David Graeber: „Wir brauchen eine politische Veränderung und die Werteumwandlung; die Diskussion darüber muss geführt werden. Das kann nicht losgelöst voneinander passieren. Das bedingungslose Grundeinkommen wäre eines, das uns losgelöst vom Wert dieser Jobs leben lässt. Hier geht es um einen politischen, sozialen und moralischen Wandel und darum, den Menschen zu vertrauen, dass sie sich selbst eine Arbeit suchen, die einen Wert für die Gesellschaft hat. Wir entwickeln uns seit 40 Jahren in die entgegengesetzte politische Richtung. Wenn 30 – 40% der Menschen Bullshit-Jobs ausführen, ist die Frage, wie ineffizient können wir denn noch werden?“
Warum streichen nicht wenigstens die kleinen Firmen ihre Bullshit-Jobs, wenn es schon nicht die großen Banken tun?
David Graeber: „Weil die Konkurrenz nicht so funktioniert, wie sie dargestellt wird. Die Regierungen der Länder schaffen nicht das entsprechende Werkzeug dafür, zum Beispiel haben große Banken einen viel größeren Einfluss und geben die Spielregeln vor. Und Teil des politischen Spiels ist es, Arbeitsplätze zu schaffen.“
David Graebers Schlusssatz nach diesem eindrucksvollen Herbstlese-Abend klang verhalten zuversichtlich: „Die Hoffnung liegt darin, dass wir uns mit gesteigerter Technologie davon wegbewegen, immer mehr zu konsumieren und stattdessen mehr Freiheit haben.“ Freiheit, um unser Leben und das anderer sinnvoller zu gestalten und Nützliches zu tun, ob für uns oder für andere.